GUILLAUME PAOLI
Die Krisen und Katastrophen, die sich gegenwärtig über-stürzen, zeigen es zur Genüge: Das existierende politische System ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Und da Diktatur und Totalitarismus keine begehrenswerten Alternativen sind, muss man in die Vergangenheit zurück-blicken, um bessere Möglichkeiten zu finden. Diese sind zwar gescheitert, doch nicht aufgrund einer inneren Inkonsistenz; sie sind mit Gewalt niederschlagen worden. Also verdienen sie vielleicht einen zweiten Anlauf, wenngleich unter veränderten Bedingungen. Was zeichnet das kommunalistische Prinzip aus? Zunächst, dass es vom bewohnten Erfahrungsraum ausgeht. Das ist meistens eine Stadt, kann aber auch ein Dorf oder eine verlassene Zone sein. Keine abstrakte Idee also, sondern ein bestimmtes Umfeld mit bestimmten Bewohner*innen. Man kann sie sich nicht aus-suchen, sie sind da, mit ihren Stärken und Schwächen.
Aber die Commune ist nicht nur Territorium, sie ist zugleich Institution, Rahmenbedingung des Zusammenlebens. Eine als illegitim empfundene Macht kann von Aufständischen destituiert werden; erst dann stellt sich aber die schwierige Frage des Instituierens: Wie gestaltet man die Kommunikation, damit ein konkretes Kollektiv handlungsfähig wird?
Wie kann Selbstverwaltung realdemokratisch und inklusiv funktionieren? Es sind mannigfaltige Aufgaben, Alternativen zur bestehenden Ordnung sind nicht immer leicht zu finden, angefangen mit der Müllabfuhr, über das Bildungssystem und die Arbeitsregelung, bis, ja, zur Polizei. Im Mittelpunkt steht die Schaffung der Commons. Um sich davon ein Bild zu machen, muss man nicht bis in die Allmende der vorkapitalistischen Zeit zurückblicken. Ein jüngeres Beispiel bietet die Entstehung des Internets. Da digitale Daten, weil endlos reproduzierbar, prinzipiell nicht knapp sein können, war die Hoffnung groß, wenigstens im virtuellen Raum Eigentum und Geld abschaffen zu können. Von den Commons blieb aber nicht viel übrig: Wie die analoge Landschaft ist die digitale mit Paywalls und Data-Mining verunstaltet worden. Knappheit ist nie eine Startbedingung, sie wird künstlich erzeugt. Das zeigt im Umkehrschluss, worin der „kommunale Luxus“ besteht, den Kristin Ross in ihrem Buch über die Pariser Commune stark macht: in der Abschaffung der Knappheit durch egalitäre Praxis.
Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, sich in eine lokalchauvinistische Burgidylle zurückzuziehen. Das kommunalistische Prinzip kann nur fortbestehen, indem es sich vermehrt. Die Föderation ist die Form dieser Vermehrung. Die Kommunarden hießen auch „fédérés“. Eigentlich ist der Föderalismus, wie von sozialistischen Denkern des 19. Jahrhunderts imaginiert, nichts anderes als das, was heute unter Netzwerk oder Rhizom verstanden wird. Die Kommunen gehen nicht in einem großen, einheitlichen Gebilde der Nation mit ihren Grenzen und Ausschließungen auf. Sie verbinden sich untereinander je nach geographischer Lage, kultureller Affinität oder wirtschaftlicher Komplementarität. So statisch der Staat ist, so dynamisch ist die Föderation. In einem latenten Zustand existiert sie bereits: Menschen verkehren, migrieren, tauschen und handeln, allen autoritären Schranken zum Trotz. In der Vielfalt der klandestinen, untergründigen Verbindungen liegt die Chance, dass die kommunalistische Föderation zu Tage tritt.
Guillaume Paoli, 1959 in Frankreich geboren, lebt in Berlin und war Mitbegründer der Glücklichen Arbeitslosen sowie Hausphilosoph im Leipziger Theater. Auch veranstaltete er Diskussionsreihen u.a. in der Berliner Volksbühne. Von ihm sind zuletzt die Bücher Die Lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur und Soziale Gelbsucht erschienen.