EUROPA IST UNHALTBAR

Konzert

„Europa ist unhaltbar“, schrieb Aimé Césaire, der Erfinder der „Négritude“, Anfang der 1950er Jahre mit Blick auf die ungelösten Probleme der „westlichen Zivilisation“: die Ausbeutung der eigenen Bevölkerung und der übrigen Welt, das Problem des Proletariats und das des Kolonialismus. Findet ihr es auch erstaunlich, dass Paul Lafargue, einer der Protagonist*innen der Pariser Commune, einen kreolischen Hintergrund hatte? Und wenn ja: Warum eigentlich?

Schwabinggrad Ballet & Arrivati fragen, was in den bekannten Narrativen der Gegengeschichte fehlt und was trotz aller Unterschiede gemeinsam gemacht werden kann. Das diverse Kollektiv bewegt sich auf der Straße und in institutionalisierten Raumen und macht Performances, Musik, Choreografien und Agitprop. Die Erfahrungen der Beteiligten mit Ausschließungs- und Aneignungsmechanismen gehen in ihre Aktionen ein.

Das Schwabinggrad Ballett ist ein aktivistisch-künstlerisches Kollektiv aus Hamburg, das sich zur Jahrtausendwende gegründet hat, um jenseits ritualisierter linker Protestformen unerwartete Situationen herzustellen. Das Schwabinggrad Ballett vereint in seinem Namen die Erinnerung an die größte Niederlage der Nazis und die ersten bohemistischen Strassenmusiker-Krawalle der Republik. Es ist ein offenes Kollektiv und Teil eines Netzwerks, das unter anderem den Hamburger Buttclub betreibt. Dort werden Diskussionen, Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, Lesegruppen und Aktionen organisiert.

Das Schwabinggrad Ballett ist ein aus einem Hamburger Debattierzirkel namens Buttclub hervorgegangenes mobiles Einsatzkommando von MusikerInnen und NichtmusikerInnen, PolitaktivistInnen und KünstlerInnen. Eine Kapelle für antizyklische Umzüge zur Unterstützung umstürzlerischer Aktivitäten.

Seit 2014 arbeitet das Schwabinggrad Ballett mit der Gruppe Arrivati zusammen – ein Zusammenschluss von Refugees und People of Colour. Auf Demos und in Interventionen auf der Straße haben die beiden Kollektive eine Art experimentelle Tanzmusik entwickelt, gespielt auf Instrumenten, die man auf die Straße schleppen kann: Schrottige Schlagzeugteile, analoge Synthesizer, Melodica, Glockenspiel, Congas, Neunziger-Jahre-Sampler oder dem Böhmat, eine Sechziger-Jahre-Orgelmaschine von brechtschem Format. Aus diesen Musikentwürfen ist das Album „Beyond Welcome“ entstanden. Es handelt vom Grenzregime, von Jazz, Postpunk, elektronischer Afro-Kraut-Musik, von den Deutschen und den Nichtdeutschen, vom Zusammenkommen jenseits einer Willkommenskultur, vom Durchhalten ohne Papiere, von sozialen Tänzen, von der Nato, von Yoruba-Göttern, vom Eurozentrismus, von den Unmöglichkeiten, eine andere Welt denken, geschweige denn durchsetzen zu können.

Ted Gaier, 1964 in Stuttgart geboren, ist Musiker, Autor und Theater- und Filmemacher sowie Mitbegründer des Musiklabels Buback und Mitglied der Bands Die Goldenen Zitronen, 3 Normal Beatles, Les Robespierres und Schwabinggrad Ballett. Das Buch „Argumentepanzer“ erschien am 18.2.2020 im Verbrecher Verlag Berlin.